Kulturell auf der Überholspur
Die Kulisse im Herzen der Stadt ist perfekt. Sorgsam restaurierte Häuser im Barock- und Renaissance-Stil rahmen den zentralen Platz mit der St. Bartholomäus Kathedrale ein. Ihr 102 Meter aufragender Turm ist der höchste Kirchturm Böhmens und das Wahrzeichen der 170.000 Einwohner-Stadt Pilsen. Zu Füßen der Kathedrale hat wochenlang ein phantasievoll gestaltetes Karussell ächzend und knarzend seine Runden gedreht. Erwachsene und Kinder ließen sich darauf von überdimensionalem Getier aus Eisen und Blech, Leder und Holz aus dem Alltag tragen. Melancholisch-nostalgische Klänge begleiteten das bunte Treiben. Das aber war erst der Auftakt. Das Kunst-Karussell sollte die Pilsener auf 2015 einstimmen. In diesem Jahr darf sich Tschechiens viertgrößte Stadt „Europäische Kulturhauptstadt“ nennen und das wird gefeiert – mit hunderten kleineren und größeren Events. Konzerte von Klassik über traditionelle Volksmusik bis hin zu Hip Hop und Elektro Swing stehen ebenso auf dem Programm wie Lesungen, Theater und Artistik. Verantwortlich für das bunte Kulturkaleidoskop zeichnet Petr Forman, Sohn des Hollywood-Regisseurs Milos Forman. In Sachen Kultur hat die Stadt, die eine Autostunde südöstlich von Prag und nah an der Grenze zu Bayern liegt, durchaus Nachholbedarf, sind Forman und seine Mitstreiter überzeugt. Der Grund für das Defizit liegt in der Geschichte – Pilsen war lange Industriestadt, hier haben die Skoda-Werke ihren Sitz. In der kommunistischen Epoche – aber auch noch viele Jahre danach – zog es die arbeitende Bevölkerung in der freien Zeit vor allem hinaus in die Datschen und seltener in Konzertsäle und ins Theater. Das soll nun anders werden. Künstler und kulturinteressierte Touristen aus dem In- und Ausland werden frischen Wind bringen und Impulse bringen.
Der Bier-Tourismus
Bislang reisen Besucher vor allem wegen des weltbekannten Pilsner Urquells an. Täglich karren Busse ihre Gruppen auf das Gelände der Brauerei. Im Viertelstundentakt führen die Brauerei-Guides durch Ausstellungsräume und Abfüllerei, durch das Sudhaus und durch den Brauereikeller, der sich als gigantisches Labyrinth unter der alten Stadt ausbreitet. Jedes Jahr nehmen sie etwa eine halbe Million Bierfreunde aus aller Welt in Empfang. Das Braurecht wurde der Stadt bereits Ende des 13. Jahrhunderts vom böhmischen König Wenzel verliehen. Die Qualität des lokalen Gertensaftes ließ jedoch zu wünschen übrig. Das änderte sich erst 1842, als man in Pilsen Josef Groll, einen Brauereimeister aus dem bayerischen Vilshofen, engagierte. Groll kreierte das untergärige Pils. Malz, weiches Wasser und Hopfen – nur drei Zutaten, die allerdings von bester Qualität, mehr brauchte er dafür nicht. Noch heute wird hier nach dieser Philosophie gebraut. Jedes Jahr verlassen rund vier Millionen Hektoliter in Flaschen, Dosen oder Fässern das Gelände.
Marionetten mit Tradition
Aber nicht nur Bier und Skoda sind untrennbar mit Pilsen verbunden– auch die berühmte Marionettentradition. Schon Ende des 19. Jahrhunderts öffnete hier ein Marionettentheater seine Türen für das Publikum aller Altersklassen. Die legendären Marionettenspieler Karel Novák, Josef Skupa und Jirí Trnka sind in Tschechien unvergessen und in der ganzen Welt kennt man Spejbl und Hurvínek, Marionetten, die in Pilsen erfunden wurden. Ihnen begegnet man im Puppenmuseum am großen Marktplatz, neben vielen anderen Figuren, die Jung und Alt tausende Male zum Lachen gebracht haben. Wer die Marionetten in Aktion erleben möchte, sollte sich im Marionettentheater Alfa unters Publikum zu mischen.
Die verborgenen Stadt
Smartphonenutzern bietet die Stadt eine besondere Attraktion. Bei dem Projekt „Verborgene Stadt“ führt eine mobile App durch die Stadt und erzählt auf den Spaziergängen von Menschen, die etwas Außergewöhnliches erlebt oder geleistet haben. Die persönlichen Geschichten sind verschiedenen Rubriken zugeordnet – Architektur beispielsweise, Kunst oder Zivilcourage. Wer die Geschichten zum Thema “Industrie” abfragt, dem erzählt ein frühere Mitarbeiter der Škoda-Werke, von den Bomben, die in Pilsen im Auftrag der deutschen Wehrmacht gebaut und über London abgeworfen wurden – so manipuliert, dass sie nicht explodierten.
Bis zur Besatzung durch die Deutschen hatte Pilsen eine große jüdische Gemeinde. Die Pilsener Synagoge ist die drittgrößte der Welt. Den Krieg hat das Ende des 19. Jahrhunderts im romanisch-maurischen Stil erbaute Gotteshaus wohl deshalb so gut überstanden, weil es den Deutschen als Munitionslager dienste. Heute erstrahlt die Synagoge frisch restauriert in neuem Glanz, hier trifft man sich zu Konzerten. Von der jüdischen Gemeinde Pilsens, die heute gerade einmal rund 160 Mitglieder zählt, wird sie nicht mehr genutzt.
Altbau und Plattenbau
Schöne Jugendstilbauten finden sich in der Altstadt – ebenso wie Bausünden aus der kommunistischen Ära der Stadt. Für Architektur- und Designfans sind die Klatovská Straße 12 und die Bendová Straße 10 lohnende Adressen. In beiden Häusern hat der berühmte Wiener Architekt Adolf Loos in den 1920er Jahren Wohnungen für betuchte Auftraggeber eingerichtet. Loos galt als Avantgardist, der Interieur schuf, das vor allem funktional und bequem sein sollte. Von übertriebenem Dekor, wie es seinerzeit üblich war, hier nicht. Gutes Material und gute Formen waren ihm Zierde genug. Die Wohnungen, die im Rahmen von Führungen besichtigt werden können, werden in den kommenden Monaten auch für Lesungen immer mal wieder ihre Türen öffnen.
Infos
Touristeninformationszentrum der Stadt Pilsen, (Turistické informacní centrum mesta Plzne), Nám. Republiky 41, 301 00 Plzen, E-Mail: info@visitplzen.eu
Tel. +420 378 035 330
Die Burgenstraße e.V www.burgenstrasse.de
Sehenswert:
Loos-Interieur – Führungen bucht man bei Magdalena Soukupová, soukupovam@plzen.eu.
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Puppenmuseum
Muzeum Loutek, Námestí Republiky 23, 301 00 Plzen Tel. +420 378 370 801, Öffnungszeiten: Di-So 10-18 Uhr. Puppenmuseum Loutek
Brauerei
Pilsener Urquell Brauerei, U Prazdroje 7, 304 97 Plzen, Tel. +420 724 618 357, http://www.prazdrojvisit.cz
Übernachten
Angelo Hotel Pilsen, angenehmes Design-Hotel am Rande der Altstadt, gleich gegenüber der Brauerei, ausgezeichnetes Frühstücksbuffet.
U Prazdroje 6, 301 00 Plzen, Tel. +420 378 016 111, http://www.vi-hotels.com