Ein erfülltes Leben führen: Thomas Schönberger, 55, war nicht immer ein philosophischer Kopf. Das ehrfürchtige Staunen allerdings, das Platon als Ursprung allen Philosophierens bestimmt hat, ist dem Hamburger Bildungsreferenten in die Wiege gelegt worden. „Meine Mutter hat schon sehr früh meine Aufmerksamkeit auf die Schönheit und Verletzlichkeit der Natur gelenkt, mich gelehrt, sie zu würdigen“, erzählt Schönberger. „Eine der eindrücklichsten Erinnerungen aus meiner Kindheit ist, wie sehr meine Mutter besorgt war, dass in dem Teich in unserem Garten ein Tier ertrinken könnte. Das war mehr als eine Sorge, das war für sie existenziell.“

Achtsamkeit für die Natur, für das nichtmenschliche, also gegenüber dem Menschen „schwache“ Leben allgemein; der Wunsch, sich dafür einzusetzen – das zieht sich wie ein roter Faden durch Schönbergers Leben. Zunächst unbewusst, ziellos, ohne einen ideologischen Überbau, wird er mit 19 Jahren aufgerüttelt, als in seinem direkten Umfeld in Hamburg-Wandsbek ein Autobahnbau droht. Schönberger gründet eine Bürgerinitiative: „Das war mein politisches Erweckungserlebnis. Mir war von diesem Punkt an klar, wohin für mich die Reise geht: dass ich mich für die Natur und die Umwelt einsetzen will.“

Damit steht für ihn die Wahl seines Studienfachs fest: Er will Stadtplaner werden und sich der ökologischen Herausforderung stellen, Natur und Städtebau in Einklang zu bringen. Die nächsten Etappen auf seinem idealistischen Weg folgen in beeindruckender Zielstrebigkeit: Schönberger beginnt, als Umweltberater zu arbeiten, heute ist er Mitarbeiter des UmweltHauses am Schüberg in Ammersbek nahe Hamburg. Mittlerweile ist er seit 17 Jahren Vorsitzender des Vegetarierbunds Deutschland Vebu und seit zehn Jahren der Stiftung Vegeterra. Auch privat hat er seine Erfüllung gefunden. Seit 23 Jahren lebt er in einer festen Beziehung, „sehr froh darüber und getragen“, wie er sagt. Er hat keine eigenen Kinder, ist aber „sozialer Vater“ der zwei Kinder seiner Partnerin.

 

Ein rundes Leben? „Ja, weitgehend“, sagt Thomas Schönberger. „Doch mit Anfang 50 habe ich gespürt, dass etwas fehlt. Ich habe zwar immer versucht, mich für das Gute, das Gemeinwohl zu engagieren, doch ich habe nicht hinterfragt, warum das Gute das Gute ist. Ich habe instinktiv gehandelt. Ich wollte hundert Dinge zugleich, war aufgeregt, hitzig. Ich wollte die Welt retten. Ich hätte niemandem ernsthaft und überzeugend die Frage beantworten können, warum ich das eigentlich will. Nicht einmal mir selbst. Mir liegt der Weltenlauf immer noch am Herzen. Aber an dem Punkt meines Lebens, wo ich jetzt angelangt bin, finde ich es spannend, die Selbstverständlichkeiten meines bisherigen Lebens zu hinterfragen, zu analysieren, warum ich etwas tue. Ich will begreifen, wer ich bin, welche Rolle ich habe. Mehr noch: Es geht mir um den Sinn der ganzen Veranstaltung, die man Leben nennt.“

Wer bin ich, was ist der Sinn des Lebens – wer hat auf solch tiefschürfende Fragen eine bessere Antwort als ein Philosoph? „Als ich angefangen habe, mich auf das Nachdenken über mein Sein einzulassen, und oft nicht weiterwusste, hätte ich eigentlich gleich darauf kommen müssen, mit meinen Anliegen zu einem Philosophen zu gehen“, erzählt Schönberger, „ich hatte allerdings keine Ahnung, dass es das gibt – einen Ort, an dem ich mich als Laie mit einem geschulten Denker austauschen kann. Ich dachte, Philosophie spielt sich weitgehend auf akademischer Ebene ab, hat kaum Platz im normalen Alltag. Dann habe ich zufällig im Philosophischen Café im Literaturhaus eine Flyer gesehen, der für die Philosophische Praxis von Dr. Robert André warb. Ich ahnte: Das ist es. Ich will mit der Unterstützung eines Philosophen meinem Denken auf die Sprünge helfen. Nicht zu Hause in einem stummen Dialog mit einem Buch, sondern in einem lebendigen Gespräch. Ich habe sofort einen Termin mit der Praxis gemacht.“

 

Das erste Gespräch zwischen Schönberger und André fand vor vier Jahren statt. Seitdem, haben sich der studierte Philosoph Robert André und Thomas Schönberger einige Male getroffen, jede Begegnung hat etwas in Bewegung gebracht bei Schönberger, jede Begegnung wirkt nach, jeder Gedanke hat gewissermaßen eine Karenzzeit. Der Austausch erfolgt auf Augenhöhe, es gibt kein intellektuelles Gefälle. Schönberger ist weder Klient noch gar Patient, sondern „Gast“ in der schlichten Praxis in der Hamburger Gaußstraße. Nichts lenkt hier vom reinen Denken ab. Zwei Stühle, ein Tisch, zwei Männer in ihren besten Jahren, die darüber verbunden sind, dass sie verstehen und wissen wollen.

„Philosophie, das bedeutet Liebe zur Weisheit“, sagt Robert André. „Das heißt für mich vor allem: Das eigene Gewordensein erkennen und sich diese Entwicklung ohne Angst anschauen. Ich verstehe mich als Anwalt der inneren Stimme des Menschen, die sich oft versteckt zwischen all den Rollen, die wir im Laufe der Jahre eingenommen haben. Je älter wir sind, in desto mehr Rollen fügen wir uns meistens. Die Menschen kommen oft erst in der Mitte ihres Lebens darauf, die Rollen, sich selbst, zu hinterfragen, um bewusster und intensiver zu leben. Sie fangen an, die Stimme zu hören, die schon so lange in ihnen spricht. Viele meiner Gäste haben ähnliche Anliegen wie Thomas Schönberger.

 

Mein Eindruck ist, erst wird die 40 oder 50 überschritten hat, beringt den Mut auf, sich sehr grundsätzlichen Fragen zu stellen: Welchen Sinn empfinde ich in meinem Leben , wenn die Kinder aus dem Gröbsten raus sind, wenn der Beruf nicht mehr alles für mich ist, wenn ich endlich mehr Zeit für mich habe? Was fange ich mit der neuen Freiheit an? Was ist Freiheit überhaupt? Wo hört meine Freiheit auf, wo fängt die meines Partners an? Wie gehe ich mit Fehlern um, wie meistere ich Krisen? Was ist wenn ich meinem Partner nach 20 Jahren untreu werde? Wie ist der Begriff der Treue zu bestimmen? Wie kann ich mir selbst treu sein? Dieses Philosophieren im praktischen Sinne bedeutet nicht nur, sich an Begriffen abzuarbeiten. Es handelt sich eben um keinen abstrakten Prozess. Das eigene Fühlen und Erleben prägt das eigenen Denken und umgekehrt. Am Ende läuft alles darauf hinaus zu erfahren Wie führe ich ein gelingendes Leben, auf das ich mit Würde und Dankbarkeit zurückschauen kann?“

Das ist die zentrale Idee der Philosophischen Praxis: einen Menschen dabei zu begleiten, ein „gelingendes Leben“ zu führen, ihn in Kontakt mit sich selbst zu bringen. Die Institution der Philosophischen Praxis ist kein neues Phänomen, es gibt die Einrichtung sei 1981. Die erste wurde von Gerd Achenbach in Bergisch Gladbach gegründet. Heute gibt es bundesweit mehr als 130 Praxen in Deutschland, die durch das gegenwärtig immer größer werdende Interesse an Philosophie in den Fokus der Öffentlichkeit rücken. Spätestens seit dem phänomenalen Erfolg der Bücher von Richard David Precht ist Philosophie nicht mehr nur etwas für Eingeweihte.

 

Begriff und Methode der Philosophischen Praxis sind trotzdem kaum bekannt. Rein terminologisch drängt sich die Nähe zur psychotherapeutischen Praxis auf, doch der große Unterschied liegt nicht nur darin, dass Philosophische Praxis keine Kassenleistung ist und weniger Zeit beansprucht. Drei bis sechs Sitzungen sind der Durchschnitte, eine Stunde kostet 90 Euro. Der markanteste Unterschied: Ein Philosoph wie Robert André begreift seinen Gast nicht als pathologischen Fall, der er „heilen“ soll. „Ich sehe in erster Linie das enorme Entwicklungspotenzial eines Menschen“, erklärt André, „und ich beziehe in meine Arbeit das gesellschaftliche Umfeld mit ein, das, was Heidegger als das ‚Welthafte‘ bezeichnet. Ich habe zum Beispiel einmal eine in Bayern geborene Kreativdirektorin zu Gast gehabt, die im protestantischen Hamburg nie richtig heimisch wurde. Wir haben gemeinsam erarbeitet, dass das keineswegs ihr privates Problem ist. Viele Menschen erleben es als elementare Verunsicherung, dass es nicht das eine absolute ethischen Maß gibt wie in einem katholischen Dorf, sondern viele verschiedene Welten und Werte. Das ist kein Versagen, sondern eine normale Reaktion eines sensiblen Menschen. Diese Erkenntnis beruhigt.“

Philosophischen Praxis, das klingt, als müsse der Gast schon im Vorfeld seinen Heidegger gelesen und seinen Kant im Kopf haben. „Philosophische Vorkenntnisse sind keine Bedingung“, sagt André. „nur die Bereitschaft, sich zu öffnen, gedanklich neue Pfade zu beschreiben.“ Natürlich fallen während einer philosophischen Sitzungen Namen und Zitate Es obliegt dem Gast, was er damit anfängt.

„Mir hat Albert Camus eine neue Welt eröffnet“, erzählt Thomas Schönberger. „Ich habe mir immer den Kopf zerbrochen über den Sinn des Lebens, habe gegrübelt, was wie gefangen in meinem Gedankenkarussell. Von Camus habe ich gelernt: Ich kann geistig auch kleinere Brötchen backen und komme, was ein erfülltes Dasein angeht, dennoch auf meine Kosten. Ich hänge das nicht mehr so hoch: den Sinn des Lebens! Mit Camus habe ich das ersetzt durch den Gedanken: Ich will meinem eigenen Leben einen Sinn geben. Das reicht. Ob das Leben allgemein einen Sinn hat, keine Ahnung, da bin ich eher ein Agnostiker. Als sehr entlastend habe ich erlebt, den „Sinn des Lebens“ vom „Sinn im Leben“ zu unterscheiden. Seitdem ich das so sehe, fühle ich mich total erleichtert, befreit. Früher hatte ich, sinnbildlich gesprochen, das Fenster immer offen, habe alle Eindrücke auf mich einprasseln lassen. Jetzt kann ich auch loslassen, das Fenster mal schließen, Pause machen.

 

Was habe ich mich früher mit Fragen gemartert. Ich lebe vegetarisch, ich sah es als Pflicht an, meine Mitmenschen und die Gesellschaft zum Fleischverzicht aufzufordern. Ich wollte die Welt retten. In der Philosophischen Praxis habe ich gelernt, erst mal zu akzeptieren, dass andere Menschen Tiere essen. Ich habe mit Heidegger verstanden, dass der Mensch als ‚Hüter des Seins‘ vor allem auf sich selbst aufpassen muss. Sicher sollten wir auch die Natur und die Tiere achten und schützen. Aber das muss nicht immer nur ich sein, der das tut. Ich habe mich selbst nicht mehr so wichtig genommen und wurde mir dadurch selbst erst wichtig. Das gilt auch für Zweifel an meinen ehrenamtlichen Tätigkeiten. Ich habe mich gemeinsam mit Robert André gefragt, ob ich einen bestimmten Posten aufgeben soll. Was fällt dann von mir weg? Was von meinem Ich fällt weg? Kann das, was wegfällt, getrost fallen, weil es nicht mehr so wichtig für mich ist? Die Philosophie hat mir geholfen, die Welt und mich mit Abstand zu sehen. Ich war nicht mehr – wie in meiner Jugend und als junger Erwachsener – in die Dinge verstrickt, sondern bei den Dingen. Früher konnte ich es zum Beispiel kaum aushalten, glückliche Momente zu haben, weil mir stets vor Augen stand, wie viele Tiere auch in diesem Moment meines Glücks in unwürdigen Haltungssystemen leiden. Heute kann ich einfach mal durchatmen, genießen.“

Damit hat Thomas Schönberger genau das erreicht, was Philosophische Praxis will. „Für mich bedeutet philosophisches Denken, dass man Abstand herstellt“, sagt Robert André. „Und zwar eine Distanz, die es im Sinne Hölderlins ermöglicht, ‚in und über den Dingen gleichzeitig zu sein‘. Ich habe meine Arbeit gut gemacht, wenn jemand hier rausgeht und sich frei fühlt, weil er mit sich selbst durch den philosophischen Abstand in Kontakt gekommen ist.“

 

Wenn er es auf den Punkt bringen sollte: Was ist die wichtigste Erkenntnis und Inspiration, die Schönberger aus der Philosophischen Praxis mit in seinen Alltag genommen hat? „Die Worte von Michel de Montaigne, dass Philosophieren sterben lernen heißt“, sagt er. „Das ist für mich keine traurige Mahnung, sondern ein Impuls, im Jetzt zu leben, den Moment mit allen Sinnen zu genießen. Ein philosophischer Kopf zu sein, das heißt für mich, lebendig zu sein. Durch das Philosophieren fühle ich mich mit 55 Jahren lebendiger als mit 20. Philosophische Praxis ist deshalb für mich kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit geworden.“